Bei den Weingartener Tagen für Neue Musik drehte sich ein Wochenende lang alles um den französischen Komponisten Brice Pauset
…Und noch einmal um Radikalität geht es in dem Monodram „Exercises du Silence“ für Stimme, Klavier und Live-Elektronik. Textgrundlage sind die Briefe von Louise du Néant, einer Mystikerin des 17. Jahrhunderts, deren heftiges Verlangen nach Kasteiung und Selbsterniedrigung sie erst in die Nervenheilanstalt von Paris und schließlich ins Kloster brachte. Schon lange, so Pauset in dem Weingartener Gesprächskonzert, interessiere ihn die Frage, welcher Preis zu bezahlen ist, um ein angestrebtes Ideal umzusetzen – sei es die freie Marktwirtschaft, deren Preis die Finanzkrise ist, seien es Ekstase und (vermeintliche) Gotteserfahrung, die (im Falles der Louise) nur über Selbsthass und Masochismus zu gewinnen sind.
Schon die Lektüre von Louises Briefen ist schwer erträglich, faszinierend und abstoßend zugleich. Sie beschreibt, wie sie eiternde Wunden leckt oder ihre Speisen mit Dreck vermischt und vom Boden isst. Wie aber Salome Kammer in der konzertanten Aufführung des Monodrams von 2008 (die szenische Uraufführung fand an der Berliner Staatsoper statt) in die Rolle dieser Frau schlüpft, die hier freilich nicht als Mystikerin, sondern als psychisch Kranke dargestellt wird, ist phänomenal. Pauset nähert sich dieser historischen Gestalt wie mit einem wissenschaftlichen Interesse – und gelangt gerade so zu dem erstaunlich einfühlsamen Psychogramm einer Hysterikerin. Die Live-Elektronik (Olivier Pasquet und Brice Pauset: Klangtechnik und –regie) hilft ihm dabei, das Innere der Louise wie nach außen zu stülpen. Man hört ihre inneren Stimmen, hört, wie sich Unruhe und Beklemmung ausbreiten, die sich dann in ekstatischem Schreien löst. Es ist ein großartiges Stück Musik, an das man sich in Weingarten sicherlich noch lange erinnern wird.
Elisabeth Schwind, Südkurier, 2011
An den Geschwüren fremder Menschen lutschen, Unrat vom Boden lecken, mit der Versuchung kämpfen, sich selbst die Zunge abzubeißen- das sind Ausgangspunkte für farbenreiche Spielchen mit Mund und Stimme. Die Sängerin Salome Kammer gibt in „Exercices du silence“ von Brice Pauset gegenwärtig alles, auch ihr Bestes. In der Werkstatt der Berliner Staatsoper im Schillertheater wälzt sie sich, wie von der Regisseurin Reinhild Hoffmann vorgesehen, auf dem Bauch, knarzt mit den Stimmbändern bei eingezogener luft, trennt die Konsonanten von den Silben, dass es nur so schmatzt und schnalzt. Nur bei den Worten wie „Jésu“ und „Dieu“ singt sie. …
jbm, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2011
…Salome Kammer ist die bewundernswert konzentrierte, biegsame Louise, die von Reinhild Hoffmann in einen virtuosen Reigen der Hingabe, der Körperspannungen und -verspannungen geführt wird. Sie beherrscht den kahlen Raum, (Mark Lammert), sie misst ihn aus, sie beatmet ihn. Dennoch müsste Salome Kammers Ausdrucksdramaturgie, so beim Balancieren mit einer Seiltänzerstange oder beim sisyphoshaften Entrollen eines roten Seils, doch noch excessiver, kämpferischer, gewalttätiger angelegt sein. Indes gehorcht die Künstlerin den inszenatorischen Varianten der Reduktion, der Entleerung, der Flucht nach innen.
…Salome Kammers agile Stimme erkundet das Spektrum der Lautkünste, wie sie die Avantgarde seit György Ligets „Aventures“ erzeugt hat: Klang und Geräusch, Wispern, Sprechen, Stammeln, Flüstern, Schrei und leuchtendes Sopranfanal…
Wolfgang Schreiber, Süddeutsche Zeitung, 2011
…So wird das Ganze eher zum Erotik-Drama: Nachdem Kammer das Pelzmäntelchen abgeworfen hat, sieht ihr schlank-muskulöser Körper auch in ärmellosem Top und geschlitztem Rock nicht sehr asketisch aus, windet sich leidend-lustvoll um die schwere, kaum zu stemmende Eisenstange oder das lange rote Seil, das sie schließlich zum Himmel besteigen soll. Doch fasziniert sie mit darstellerisch-stimmlicher Präsenz, mit dem Umschlag von selbstquälerischem Antigesang bis zu ekstatischem Klangglanz ihres wandlungsfähigen Organs. So gelingt es Kammer, die seelischen Grenzüberschreitungen der Louise du Néant zwingend nachzuzeichnen.
Isabel Herzfeld, Tagesspiegel, 2011
Der rhythmische Verlauf seiner Partitur ergibt sich für Brice Pauset durch die von der Autorin bei der Variation ihrer Kasteiungen vorgenommene Nummerierung. Louises fortschreitende Psychose zeichnet eine Sammlung an ausgewählten Geräuschen, vom Rauschen und Knirschen, bis hin zum Erbrechen und Ersticken. Komische Momente sind dabei keineswegs ausgeschlossen, mit einer Stimmenvielfalt aus dem Äther-Mix und Jesus als „Telefonstimme“. Und in der „Scène des follies“ sequenziert das Klavier mit tonalen Doppelschlägen. „Silence“ ist also auch in Pausets Musik ein äußerst beredtes Schweigen.
Die Ausstattung des bildenden Künstlers Mark Lammert beschränkt sich in der Werkstatt des Schiller-Theaters, das der Staatsoper seit Anfang dieser Saison als Interimsdomizil dient, auf zwei Flügel im leeren, schwarzen und weißen Raum, auf ein rotes Seil und auf eine Rutschstange. Reinhild Hoffmann, nach dem Tod von Pina Bausch zur bedeutendsten Choreographin der ersten Generation des deutschen Tanztheaters aufgerückt, betont in ihrer bogenförmigen Inszenierung die Übungskraft der Exerzitien in dem vom Komponisten selbst intendierten Bild des Seiltänzers.
Die erotische Komponente rückt dabei stark in den Vordergrund des Geschehens, wenn die netzbestrumpfte Louise die Eisenstange leidenschaftlich an sich schmiegt oder das rote Seil genüsslich durch ihren Schritt gleiten lässt. Zunächst hatte sie sich als Adelige im Pelz auf dem Flügel in der oberen Etage geräkelt, später liegt und zuckt sie zumeist auf der Erde, während der Klangerzeuger im letzten Drittel selbst die belle Etage in Beschlag nimmt. Benjamin Kobler exerziert, präpariert und traktiert die beiden Flügel, ist aber auch als Ansager ins Spiel integriert und dirigiert Louise mit Eisenstange und Zeigestab.
Das Libretto in deutscher und französischer Sprache ist im Programmheft nachzulesen. Doch ohne Übertitelung ist der vielfach in seine Konsonanten zerhackte Text des französischen Originals während der Aufführung nur schwer nachvollziehbar, obgleich die Sopranistin Salome Kammer perfekt artikuliert. Überhaupt lebt die Aufführung von der Ausstrahlungskraft dieser in Kabarett, Schauspiel und zeitgenössischem Musiktheater gleichermaßen erfolgreichen Künstlerin, die neben den geforderten, extremen stimmlichen Ausdrucksmitteln höchst intensiv agiert und selbst an der Kletterstange, mit nach hinten gebeugtem Oberkörper, mühe- und makellos ein lang ausgehaltenes, zweigestrichenes A bewältigt.
Neue Musikzeitung, 2011
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