Vergangenheit steht noch bevor -Liederabend und Lesung mit Rilke

Rilkeabend im Deutschen Literaturarchiv in Marbach

Sternstunde der Literaturvermittlung

Sängerin Salome Kammer und Pianist Rudi Spring spüren dem Echo Rilkes in der Musik nach

Nehmen wir’s vorweg: Nichts Geringeres als eine Sternstunde der Literaturvermittlung war die in Zusammenarbeit mit der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie organisierte musikalische Lesung von Salome Kammer und Rudi Spring am Mittwoch im Literaturarchiv. Begleitend zur aktuellen Ausstellung „Rilke und Russland“ hat die famose Sängerin, manchen auch als Darstellerin der Clarissa Lichtblau in Edgar Reitz‘ „Die zweite Heimat“ bekannt, mit ihrem Pianisten dem Echo nachgespürt, das Rilke auf dem Gebiet des Kunstlieds erfahren hat… Resonanz ist ein Phänomen aus dem Bereich der Musik. Dabei hat sich der in Prag geborene Lyriker für seine Lesungen solche „musikalischen Ergänzungen“ ausdrücklich verboten.

Ein Glücksfall, dass solch ein Verdikt nicht in Stein gemeißelt steht: Wie Kammer und Spring die Rilke-Vertonungen von Philip Jarnach, Winfried Zillig, Ernst Toch, Hans Krasa, Bernd Alois Zimmermann und Paul Hindemith auf den Punkt brachten, sucht seinesgleichen. Eine hochkarätigere Interpretation dieser anspruchsvollen Avantgarde-Preziosen lässt sich schwerlich vorstellen. Ungeheuer aufregend, mit welch virtuoser Intensität Kammer den Rilke-Liedern Präsenz verlieh. Spring, mit dem sie seit 17 Jahren zusammenarbeitet, erwies sich als makelloser, ja kongenialer Begleiter. Dazwischen gab Kammer eine Zusammenfassung der Ereignisse rund um die Russlandreisen, die Rilke mit Lou Andeas-Salomé 1899 und 1900 unternommen hat und die nicht nur eine prägende Erfahrung für den jungen Mann, sondern ein Initiationserlebnis waren. Köstlich Kammers Rezitationen von Briefen, Tagebucheinträgen und auch Gedichten, wie sie aufjauchzt, bekümmert eine Schnute zieht oder zerknirscht schaut. 1926 entwickelte sich noch eine ungewöhnliche Brieffreundschaft: „Vergangenheit steht noch bevor“ hatte die russische Schriftstellerin Marina Zwetajewa an den Rand einer ihrer Briefe geschrieben, in denen sie ihr fernes Idol anhimmelte. Rilke stirbt am 29. Dezember, ihr letzter Brief ist ein posthumer: „Mach, dass ich manchmal von dir träume“.

 

Ludwigsburger Kreiszeitung, 7.7.2017, Harry Schmidt

 

Bodenseefestival: Salome Kammer und Rudi Spring in Salem

Lou Andreas-Salomé, Rainer Maria Rilke, Marina Zwetajewa: Leben und Denken dreier außergewöhnlicher Menschen wurden im kühlen Bibliothekssaal von Schloss Salem ausgebreitet, als die Sängerin Salome Kammer und der Pianist Rudi Spring sich im Rahmen des Bodenseefestivals mit Briefen, Tagebucheintragungen und Vertonungen von Gedichten Rilkes auf die Spuren von „Rilke und Russland“ begaben.

Rilke hatte Lou Andreas-Salomé, die in Petersburg geborene Deutsch-Russin, die 15 Jahre älter war als er, in München kennengelernt. Sie war zwar verheiratet, hatte sich aber von ihrem Ehemann alle Freiheiten ausbedungen. Der 22-jährige psychisch labile Dichter, der noch kaum etwas veröffentlicht hatte, wird gleichsam von ihr geformt. Auf ihr Anraten ändert er seinen Vornamen René in Rainer, sie führt ihn in die russische Literatur ein. Gemeinsam leben sie im Süden von München bei Wolfratshausen, im April 1899 brechen sie zum ersten Mal zu dritt nach Russland auf. Rilke fühlt sich zu Hause in der russischen Kultur, den Kirchen, bei einem Besuch in der Osternacht bei Tolstoi oder bei einer vierwöchigen Reise auf der Wolga. Rilkes Stil ändert sich durch all diese Eindrücke, er reift zum Dichter, doch Lou kann seine Abhängigkeit von ihr nicht ertragen und trennt sich 1901 von ihm. Nach drei Jahren ohne Kontakt sind die beiden bis zum Tod Rilkes im Jahr 1926 freundschaftlich verbunden. In Briefen und Gedichten führte Salome Kammer diese sicher problematische Beziehung eindringlich vor Augen.

Im Todesjahr – Rilke starb am 29. Dezember in der Schweiz an Leukämie – beginnt Marina Zwetajewa, die 17 Jahre jüngere russische Lyrikerin, einen intensiven, höchst poetischen, zärtlichen Briefwechsel mit dem Dichter. Sie hat ihn nie persönlich kennengelernt und sieht in ihm ihren Seelenverwandten und Schutzengel. Außergewöhnlich sind diese Texte, Lyrik in Briefform, und Salome Kammer, die Schauspielerin („Heimat“ von Edgar Reitz) und Sängerin, kriecht förmlich flüsternd in sie hinein. Besonders der „Neujahrsbrief“, den Zwetajewa dem Toten in die „andere Welt“ schreibt, geht unter die Haut.

Dazu gelingt ihr der Spagat, immer wieder vom Sprechen zum Singen zu wechseln, denn sie und Rudi Spring haben rund um die Texte ein ungemein schlüssiges und vielseitiges Programm mit Vertonungen von Rilke-Gedichten entwickelt. Die Komponisten Philipp Jarnach, Winfried Zillig, Ernst Toch oder Hans Krasa sind sicher den wenigsten bekannt: Auf unterschiedlichste Weise spüren sie in Sprechgesang, humoristischem Staccato nach der Art eines Abzählreims oder zart innig den Sprachbildern Rilkes nach. Sängerin und Pianist gestalten die teils etwas spröden Lieder farbenreich und im intensiven Austausch, mit großen Ausbrüchen oder leise verhauchend. Klavierstücke von Skrjabin und von Schostakowitsch runden den facettenreichen, dramaturgisch geschlossenen Abend ab.

Schwäbische Zeitung 11.5.2018 von Katharina von Glasenapp

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